Zukunftsmusik
Ein Festival verankert neue Musik im Lebensalltag der Menschen
Von Gisela Nauck und Iris Mencke
Ein Festival wie Zukunftsmusik in und vor allem um Stuttgart herum hatte es so noch nicht gegeben. Präsentiert wurden nicht, wie sonst üblich,
Uraufführungen und Werke aus jüngster Zeit auf dem Podium, ergänzt vielleicht um Klanginstallationen und ggf. gebündelt unter Themen, sondern Zukunftsmusik hatte vom 1.-10. Oktober seine
Uraufführungen in den Städten selbst verankert. An diesen zehn Tagen pilgerten mehr als viertausend Zuhörer und Zuschauer zu dreiundzwanzig Veranstaltungen in zwölf Städten. Bereits die von den
KomponistInnen jeweils selbst ausgewählten Orte signalisierten die Herausforderung: Musik fand in der Altstadt von Waiblingen oder in der Justizvollzugsanstalt Gotteszell in Schwäbisch Gmünd
statt, an der Hohenstaufen-Ruine bei Göppingen oder verteilt in der Altstadt von Ditzingen, innerhalb des Klett-Verlages Stuttgart oder in der Steintorhalle Leonberg.
Die zweite Besonderheit: Die Kompositionsaufträge hatten die Städte selbst vergeben, seit 1992 organisiert in der KulturRegion Stuttgart mit dem Ziel, das
kulturelle Leben in der Region zu verbessern. Zukunftsmusik war das erste Engagement dieses Vereins in Sachen Musik. An diese Aufträge aber hatten die Kulturverantwortlichen eine Bedingung
geknüpft: Die entstehende Musik musste von diesen Städten und ihren Bewohnern ausgehen, musste etwas mit dem Leben der Menschen in diesen Städten zu tun haben, egal ob daraus ein Konzert, eine
Performance, ein Happening, ein interdisziplinäres oder ein theatralisches Projekt entstand. Und: Die Menschen dieser Orte sollten einbezogen werden: Laien-, professionelle und halbprofessionelle
Musiker, Chorsänger, Schüler, Lehrer, Sportler, Verkäuferinnen, Bäcker ... - als Menge oder als Einzelne. Es ging um nichts Geringeres als darum, musikalische Formen zu entwickeln, die -
zumindest temporär - im Leben der Menschen, die sie hören sollen, verankert sind. [...]
Für die Bewohner von Waiblingen wurde die musikalische Aktion am Abend des 8. Oktober zum Ereignis. Die Improvisationsgruppe KLANK aus Bremen [...] hatte für die
Altstadt mit ihrem schönen Rathausplatz als Zentrum über die Dauer einer Stunde einen StadtKLANK inszeniert. Ausgehend von dem zunehmend angereicherten Ton e braute sich hier ein Klangereignis
zusammen, das sich zu geradezu revolutionärer Intensität und schließlich zum Schrei steigerte. Ein Riss war inszeniert, der nach Ogiermanns Überzeugung erfahrbar machen konnte: Wenn die
Grundfesten in Zeiten der Krise im Wanken sind, entsteht Raum für neue Sinnstiftungen. Vierhundertfünfzig Waiblinger waren an diesem Ereignis aktiv beteiligt, Kammerorchester und Schulchöre,
Guggenensemble und Blasvereine. Gruppiert in einem großen Kreis um die Altstadt herum liefen sie sternförmig, auf sechs verschiedenen Wegen, musizierend zum Altmarkt. Live auf große
Lautsprecherboxen übertragen, konnte man diese Anreicherung des Tones e um Abweichungen, Dissonanzen, Instrumentalwechsel, Oktavierungen oder performative Aktionen von Anfang an auf dem Platz
verfolgen. Dieser selbst war brechend voll von Zuhörern, alle neugierig und bestens gelaunt. Gelungen war es hier, durch einen klanglich spannenden Prozess und die Beteiligung der Einwohner
Interesse und Anteilnahme für das den meisten fremd Klingende zu wecken.
[...] Ein Resümee von Zukunftsmusik könnte lauten: Musik verliert durch ihre Einbindung in alltägliche Situationen ihre traditionelle Kunstfähigkeit und
gewinnt, als rezeptionelle Eigenschaft solcherart Wahrnehmungsverschiebungen, Erfahrungspotenziale für Mitwirkende aller Art hinzu. Das führt letztlich zu der Frage: Was macht den Kunstanspruch
von Musik aus? Und ist das da wichtigste Kriterium für gut oder schlecht? In den Vordergrund gerieten die installativen und performativen Elemente von Musik.
[...] Mit der Idee, musikalisch Brücken zum Alltag der Hörer zu schlagen, hat das Festival Zukunftsmusik Fenster weit aufgestoßen, die musikalisch, inhaltlich und aufführungspraktisch in Richtungen zeigen, wohin die Reise der neen Musik in Zukunft gehen könnte. Wie sagte doch [der Filmemacher und Videokünstler] Daniel Kötter während des kurzen Gesprächs im Abschlusskonzert: "Wenn sich Musik als Teil der Gesellschaft versteht, dann muss sie sich auch mit den anderen Teilen der Gesellschaft auseinandersetzen." Wichtig wären auf jeden Fall weitere Festivals wie Zukunftsmusik, denn die bei den Menschen der Region ausgelösten Impulse würden sonst schnell wieder verblassen. Der Komponist Christoph Ogiermann ist nach seinen Erfahrungen in Waiblingen überzeugt davon, wie er im Interview sagte, dass es "nach zehn Jahren Zukunftsmusik hier eine Region gäbe, die total kompetent mit zeitgenössischer Musik umgehen würde".
Die ungekürzte Fassung des Artikels erschien in: positionen.> Texte zur aktuellen Musik. Nr. 86.
Februar 2011
Wir sind der Sound der Stadt
Was Waiblingen erwartet morgen bei der Musikaktion "StadtKLANK" in der Innenstadt - 450 Aktive (Vorbericht) • Von Jörg
Nolle
Applaus für die Stadt Waiblingen. Jetzt schon, im vorhinein. Das, was morgen, Freitag, als "StadtKLANK" aus allen Himmelsrichtungen gen Marktplatz einströmt, ist
unübertroffen. 450 Akteure, vom Schulchor bis zu Guggenmusikern, so viel bringt niemand sonst auf die Beine im Rahmen des regionsweiten Festivals "Zukunftsmusik".
Waiblingen ist keine Wüste mehr in Sachen Neuer Musik. Die Neutöner-Szene verweigert ja den Ohrenschmeichler. Aber seit der John-Cage-Aufwartung in der Galerie Stihl
haben viele Waiblinger einen Zugang zu Sperrigem. Und jetzt sind also seit Tagen drei Tonkünstler und Theaterleute aus Bremen in der Stadt, die Proben übernehmen etwa mit den Guggenmusikern
Ohrawusler, mit der Sinfonietta, mit den Salierchören.
Christoph Ogiermann, einer der drei Bremer Musikanten, hat zur Vorbereitung versucht, das Geläut Waiblinger Kirchenglocken morgens um sechse aufs Band zu bannen.
Höre da: der Generalbass des anschwellenden Automotorengesangs war immer mit drauf. Interessant, findet Ogiermann. Es ist das, was er will: Alltagsgeräusche erst in eine Partitur zu bringen, dann
zur Aufführung. Die freilich nicht nach Gesetzen von Melodie und Harmonie funktioniert. Es ist eher so, als wenn im Kunstunterricht eine ganze Klasse versucht, ein Bild des Abstrakten
Expressionismus nachzumalen und zu übertreffen. Hier kommt es zur Polyphonie der 400 Stimmen und Instrumente gemäß den präzisen Ablaufplänen der Bremer Komponisten.
Reinhören in die Probe im Musiksaal des Salier-Gymnasiums: 50 junge Stimmen beginnen mit einem lange E - der verbindliche Grundton für alle 400 Mitwirkenden dann am
Freitag. Das modulierte E mit einer abgesägten Plastikflasche als Megafon am Munde, stuft sich ab, bricht ab. Der Blick auf die Uhr und auf die Partitur verlangen Interventionen, die aus einer
Kiste kommen, die jeder vor sich her trägt. Ein Bauchladen der Klangerzeugung. Blechrasseln legen los, Erbsen prasseln auf den Kartonboden, dann das enervierende Geräusch von Klebeband, das
gestisch choreografiert und wahrlich in allem Ernst abgerollt wird - hier, hör an, hör an, kommt es zu einer Selbstermächtigung. Wir sind der Sound der Stadt. Und, merke auf, es klingt gar nicht
schlecht. Gar gut. Mitunter gewaltig. Jetzt schon. Wenn nun noch die 400 anderen Geräuschemacher und Audio-Interventionisten dazukommen... Ja, man will es auf sich zukommen lassen.
Waiblinger Kreiszeitung, 7. Oktober 2010
Waiblingen, oder: der Riss in der Wirklichkeit
Von Patrick Hahn (Vorbericht)
Man könnte die Geschichte der Musik des 20. Jahrhunderts als eine Geschichte der Befreiung erzählen. Als Geschichte der Öffnung für unterschiedliche Arten der
Musikproduktion, des Gebrauchs der Töne und Instrumente, der Dissonanzen und der Harmonien; als großer Möglichkeitsraum, in dem Zugangshürden abgebaut und die Klänge freigelassen sind. Christoph
Ogiermann könnte der Erzähler sein, denn er nutzt diese Freiheiten - mit Ärger, mit Wut, zum Einspruch gegen die Verhältnisse.
"Die einzigen, die von dieser Entwicklung noch keine Notiz genommen haben, sind die Musikhochschulen", meint der Komponist. "Darum heißen sie auch Konservatorien.
Tatsächlich kommen die Errungenschaften der Neuen Musik vielleicht gerade jenen zugute, die nicht im deutschen Bildungskanon aufgewachsen sind - es eröffnet ihnen die Möglichkeit zur
Partizipation."
Ogiermanns Musik lässt sich nicht vereinnahmen, sie macht keinen Hehl aus ihrem "Nichteinverstandensein". Das Schlüsselerlebnis zu dieser Haltung liegt - wie bei vielen Menschen - in der Kindheit. "Für mich war immer das Merkwürdigste, wenn nach für mich sehr erregenden Musikerlebnissen, wie beispielsweise einem Konzert mit Mussorgskys Nacht auf dem kahlen Berg, das mich wirklich völlig überwältigt hat, die Welt noch immer die gleiche war. Man war ein anderer, doch die Menschen und Autos schlichen herum wie immer. Wie kann das sein? Diese Frage beschäftigt mich heute noch grundlegend. Rational kann man sich das natürlich erklären. Aber das ist der Grund, warum ich gerne mit Menschen in bestimmten Umgebungen arbeite mit der Maxime: Machen wir einmal kurz einen Riss in die angeblich so fest gefügte Realität. Nicht, damit es besser wird, sondern erst einmal nur anders." Um diese Andersheit zu erzeugen, greift Ogiermann immer wieder vor allem auf zwei Stilmittel zurück: Dissonanz und Lautstärke. Während die Dissonanz integraler Bestandteil der Neuen Musik ist, gibt es auch für die Liebe zur Lautstärke in der Biografie von Christoph Ogiermann eine Urszene. "Es war der Gang zum Richtplatz in der Symphonie fantastique von Hector Berlioz. In dem Moment, wenn alle Schlagzeuger einsetzen, stand in meinem Kopf 'Stimmt!' und ich konnte frei atmen. Lautstärke ist für mich eine ganz persönliche Befreiungspsychologie."
Extreme Lautstärken sind in Waiblingen nicht zu erwarten - viel zu verwinkelt, viel zu labyrinthisch brechen sich die Resonanzen in der Waiblinger Altstadt. Durch
die große Langsamkeit der Fortbewegung und des gleichmäßigen "Drones", der die Stadt durchzieht und in einer blockartig massiven Klangfläche mündet, könnte von dem Ereignis auch ein eher
meditativer Charakter ausgehen. Die gesamte Gemeinde nimmt Ogiermann in seinem StadtKLANK mit auf diesen "Ausriss" aus der Realität. "Manchmal hat man ja seine Stockhausen-Momente", sagt
Ogiermann in Anspielung auf einen der berühmtesten Komponisten des 20. Jahrhunderts, der für seine visionären Ideen bekannt war. "Vor meinem inneren Auge sah ich Hunderte weiß gekleidete Musiker
sehr langsam von unterschiedlichen Seiten auf einen zentralen Platz zustreben." 450 Musiker werden es nun sein, die - wenn auch nicht in ausschließlich weißer Kleidung - sternförmig auf den
Waiblinger Marktplatz zumarschieren, begleitet von Schwärmen von Sinus tönen. Diese Sinustöne sollen auch aus dem Inneren der Häuser erklingen. Wer in Waiblingen nicht mit Instrument auf der
Straße marschiert, ist aufgerufen, seine Fenster zu öffnen und das elektronische Kontinuum, das die Aktionen der Musiker begleitet, mit seiner heimischen Stereoanlage in die Stadt zu übertragen.
Ein risikoreiches Experiment, das auf die Mitwirkung der Bürger vertraut. Ausgangspunkt für den StadtKLANK ist der Ton "e" - gewählt aus dem sehr einfachen Grund, dass dieser sich auf der
Tastatur eines Klaviers ziemlich genau in der Mitte befindet, dieser also von allen Richtungen gleichermaßen "umspielt" werden kann. Nach und nach treten weitere Töne hinzu, bis alle Töne des
chromatischen Totals in sämtlichen Intervallkonstellationen erklungen sind. Weniger verstörend als die Klangskulptur könnten gestische und szenische Aktionen wirken, die Musiker lassen Erbsen
fallen, zerbrechen Stöcke oder zerreißen Papier. Inszeniert wird das Ereignis von KLANK, einem Musik-Aktions-Ensemble, dem neben Ogiermann der Perkussionist und Klangperformer Tim Schomacker und
der Kontrabassist Reinhart Hammerschmidt angehören. Sie haben über die freie Improvisation zusammengefunden - etwas von dieser Freiheit, gemeinsam eine Richtung zu verfolgen und dennoch den
eigenen Weg zu gehen, wollen sie den Waiblingern vermitteln. Bei den Proben überzeugen Ogiermann und seine Mitstreiter durch ihre Haltung. "Gelegentlich wird man an Orte eingeladen und begegnet
der Haltung: ‚Wasch mich, aber mach mich nicht nass'. Die Leute wollen das Außergewöhnliche, doch wenn sie damit konfrontiert werden, beginnen die Diskussionen." Diese Erfahrung aus früheren
Projekten weicht in Waiblingen einer anderen: "Gerade in Zeiten der Krise stellt man fest, dass es eigentlich viel Platz gibt für dieses Andere. Wenn die Grundfesten im Wanken sind, dann entsteht
Raum für Sinnstiftung."
Programmzeitung zum Festival Zukunftsmusik. Oktober 2010